Presse

Münchner Merkur - Juni 1993


Eine Geige kann lachen und weinen

In Mittenwald Olympiade der Streichinstrumente

(Von unserem Redaktionsmitglied Thomas Mayerle)

Mittenwald

Und der Himmel hängt voller Geigen. In einem Meisterbetrieb sind die Wertvollen Streichinstrumente wie Kleidungsstücke an der Wäscheleine zum Trocknen festgemacht. In Geschäften der malerischen Marktgemeinde am Karwendel dienen die Klangkörper aus Fichten- und Ahornholz als attraktive Schaufenster-Dekorationen. Eine Konditorei lockt mit einer süßen Versuchung: Geigen aus Marzipan. Und vor der Pfarrkirche steht unübersehbar das Denkmal von Meister Mathias Klotz, der vor über 300 Jahren die Mittenwalder Geigenbau-Tradition begründete.

Wettbewerb und Ausstellung

Ein großer Geigenbau-Wettbewerb und eine Instrumenten-Ausstellung machen Mittenwald derzeit zur "Olympiade der Streichinstrumente". 298 Teilnehmer aus 28 Ländern - unter anderem aus Australien, China, Japan, USA, Israel und Rußland. - präsentieren 369 Instrumente (213 Geigen, 108 Bratschen und 48 Celli) sowie 98 Bögen nach Entwürfen alter Meister und eigenen Stilrichtungen. In der Mittenwalder Hauptschule sind diese Meisterwerke handwerklicher Kunst, auf denen so oft virtuos Meisterwerke der Musik erklingen, hinter Glasvitrinen vielbestaunte Schauobjekte von Musikliebhabern und Laien. (Die Ausstellung ist noch bis zum 12. Juni geöffnet.) Die Juroren lobten denn auch insten Tönen die Qualität, Klangfähigkeit und Spieltechnik der Instrumente. Und stellten die Veranstaltung auf eine Stufe mit den großen Wettbewerben in Prag und Minneapolis. Das Publikumsinteresse ist überraschend groß. Zum Konzert des renommierten Münchner Sinnhoffer-Quartetts, das auf den "Sieger"-Instrumenten des Wettbewerbs Werke von Dvorak und Brahms spielte, kamen 500 Besucher, um die Kunst der Interpreten zu bewundern. Vorträgen über die Herstellung von Saiten und typische Merkmale, über Bogenbau oder über die "Kenntnis von Instrumenten" mit anschließender Diskussion lauschten bis zu 250 Zuhörer. Der tägliche Geigenbauer-Stammtisch im Gasthof Gries hat jedoch mehr folkloristischen Charakter in Biergarten-Atmosphäre. Die Geige gilt als "Königin der Instrumente". Sie könne am trefflichsten menschliche Gefühle ausdrücken. "Eine Geige kann lachen, weinen, heiter,melancholisch und traurig sein", sagt Anton Maller (40), Instrumentenbauer und Lehrer an der Mittenwalder Geigenbauschule. Er war einst mit 21 Jahren Deutschlands jüngster Geigenbaumeister. Geigenbauer behandeln ihre Instrumente liebevoll wie eine schöne Frau, hieß es. Bis zu 200 Arbeitsstunden investieren sie in eine Geige von höchstem Niveau. Die Preise liegen zwischen 5000 und 20000 Mark. Der Mittenwalder Meister Rainer Leonhardt (30), der als jüngster Teilnehmer im Finale einen Sonderpreis bekam, vertritt die typische Mittenwalder Geigenbau-Weise: volle oder hohe Wölbungen, relativ kurze Ecken und zierlich geschnittene Schnecken. Auch die Karriere verläuft oft im Schneckentempo: Stradivari war 50, als er berühmt wurde.

(Münchner Merkur - Juni 1993)

Weitere Details